«Ich glaube, dass der Mensch grundsätzlich gut ist»

Marco Cortesi ist der bekannteste Polizist Zürichs, vermutlich der Schweiz. Nun geht er in Pension. Er sagt, er verlasse eine Behörde mit fast perfekten Ansehen.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 13. Januar 2021

Bild: Linda Pollari.

Vor 37 Jahren begann Marco Cortesi seine Karriere. Nach der Polizeischule bei der Stadtpolizei Zürich fuhr er im Streifenwagen dem alltäglichen Verbrechen hinterher. 1990 wechselte er zur Kriminalpolizei, bis er nach zwei Jahren in die Medienstelle rutschte, wo er seither wirkt, ab 2007 als deren Chef.

Ende Januar wird der bald 65-Jährige abtreten. Der bekannteste Polizist der Schweiz, im Engadin aufgewachsen, macht sich selbständig – als Krisenkommunikator.

Dass Cortesi nicht nur Sprecher in der Not, sondern auch Vollblutpolizist war und ist, wird vor unserem Treffen deutlich. Beim Fotoshooting vor der Polizeiwache Urania hievt er ein Vintage-Velo zur Seite, das optisch zwar dekorativ gewesen wäre, ihn aber störte, weil es an diesem Ort falsch parkiert war.

Ordentlich geht es bei Cortesi, selber begeisterter Velofahrer, auch im Büro zu und her. Sein Pult ist papierfrei. Nur auf der Wandablage liegt ein Paar Handschellen.

Weltwoche: Entschuldigen Sie, sind das Ihre Handschellen?

Marco Cortesi: Ja, die brauchte ich früher relativ viel – wollen Sie sie mal spüren?

Weltwoche: Unbedingt!

Cortesi: Achtung, man macht das ein bisschen fest. Und zack.

Weltwoche: Ein geiles Gefühl, wenn’s klickt?

Cortesi: Wenn man den Richtigen hat, etwa den, der seine Mutter umbrachte, dann schon.

Weltwoche: Sie waren 37 Jahre lang bei der Zürcher Stadtpolizei. Herr Cortesi, wie wurden Sie Polizist?

Cortesi: Aus Zufall. Als Teenager arbeitete ich als Skilehrer und spielte ein bisschen Golf. Meine Schwester war nicht so glücklich, sie meinte, ich solle etwas Richtiges machen. Die Postlehre brach ich dann aber ab, und nach dem Abschluss des Handelsdiploms wechselte ich für einige Tage auf eine Grossbank, in ein Grossraumbüro. Das war nichts für mich. Dann meinte meine damalige Freundin: «Die Polizei wäre doch etwas für dich.» Und so begann ich die Polizeischule, für zwei Jahre. Das gefiel mir.

Weltwoche: Wenn Sie an Ihre Kindheit denken, an was erinnern Sie sich?

Cortesi: Golf! Bei uns im Engadin, in Samedan, fand jedes Jahr ein Golfturnier statt, bei dem Profis spielten. Von einem war ich Caddie, ich war zwölf. Nachdem er das Preisgeld gewonnen hatte, gab er mir ein sehr, sehr grosszügiges Trinkgeld. Ich dachte, ich spinne. Seither glaube ich, dass man einfach auch mal Glück haben muss im Leben. Mein Vater wollte zwar erst, dass ich alles zurückbringe. Am Schluss aber brachte ich es dann auf die Bank und dachte mir: Golfprofi, das wär’s. (Lacht)

Weltwoche: Was arbeiteten Ihre Eltern?

Cortesi: Mein Vater war Chef für Strassenbau beim Tiefbauamt im Oberengadin. Eine gute Funktion, aber er verdiente nicht sehr viel. Meine Eltern waren nicht reich. Mein Vater war Jäger, ich ging oft mit ihm jagen. Er war auch Bergführer, und wir gingen ab und zu z Berg.

Weltwoche: Und Ihre Mutter?

Cortesi: Sie war Hausfrau und Mutter. Mein älterer Bruder kam behindert zur Welt. Claudios Krankheit führte dazu, dass er immer kleiner und kleiner wurde, bis er mit zehn Jahren starb. Da war ich fünf. Ich erinnere mich zwar schon noch an dieses weisse Särglein in der Wohnung, aber für mich als Kind war es halt einfach so. Schlimm war es vor allem für meine Mutter, sie machte alles für den Buben.

Weltwoche: Was lehrte Sie Ihre Mutter?

Cortesi: Sie hatte immer gute Tipps für mich, auch als ich schon Info-Chef der Stadtpolizei war. Wir telefonierten fast jeden Tag. Ich lernte, mit allen Leuten anständig umzugehen, alle gleich zu behandeln. Sie war ein Vorbild. Auch wenn ich wusste, dass sie bald sterben würde, war ihr Tod einer meiner schwärzesten Tage.

Weltwoche: Der Tod gehört zu Ihrem Beruf. Gab es eine Unfallstelle, einen Tatort, der Ihnen schlaflose Nächte bereitete?

Cortesi: Besonders tragisch war, als ein Mann von einer Strassenwalze überfahren worden war. Alle, die das sahen, waren geschockt, sogar Mediziner mussten psychologisch betreut werden. Ich sah dann eine Frau, die etwas weiter entfernt an der Bushaltestelle sass. Zwei Stunden später merkte ich, dass sie immer noch da sass. Ich fragte sie, ob alles okay sei. Aber sie schaute einfach durch mich hindurch. Sie hatte offenbar gesehen, wie es geschah. Dieser leere Blick ging ganz tief rein.

Weltwoche: Was ist schlimmer: der Anblick von Toten oder die Reaktion von Lebenden?

Cortesi: Beides ist schlimm, aber man lernt, damit umzugehen. Diese Bilder jedoch, die vergisst man schon nicht einfach so. Ein Kopf etwa, der im Kreis 3 in einem Hinterhof lag, auf einer Wiese, daneben der Körper. Oder der achtjährige Bub, der unter das Zwillingsrad eines LKW kam.

Weltwoche: Wie konnten, wie können Sie trotz allem optimistisch bleiben?

Cortesi: Familie, Freunde, Freundin. Und ich bin viel in der Natur. Ich bike, fahre Rennvelo, klettere, mache Skitouren oder Langlauf. Freizeitbeschäftigungen sind wichtig, aber auch das Team. Wir sprechen viel über solche Themen. So können wir es auch besser verarbeiten.

Weltwoche: Lesen Sie, wenn Sie frei haben, auch Krimis?

Cortesi: Nein.

Weltwoche: Sie haben keinen Lieblingskrimi?

Cortesi: Ich lese kaum Bücher, ich bin kein Bücherwurm. Andere lesen viel mehr. Judith Hödl zum Beispiel, meine Nachfolgerin. Sie liest, wie andere Jogurt essen.

Weltwoche: Gehen wir zurück in Ihre Jugend: Mit welchen Erwartungen zogen Sie als Sechzehnjähriger vom Engadin nach Zürich?

Cortesi: Bergler sind fasziniert von Zürich. Alle! Die Jungen, weil da etwas läuft. Und so ging es mir auch, Zürich ist halt Zürich.

Weltwoche: Was vermissten Sie am meisten?

Cortesi: Die Berge, die Leute und die Sprache.

Weltwoche: Stimmt es, dass Sie romanischsprachig aufgewachsen sind?

Cortesi: Ich rede noch immer romanisch daheim. Meine Freundin wollte es unbedingt lernen. Heute merkt niemand mehr, dass sie nicht romanischsprachig aufgewachsen ist.

Weltwoche: Haben Sie das Militär gemacht?

Cortesi: Natürlich! Ich war bei der Strassenpolizei.

Weltwoche: Also doch kein Zufall, dass Sie Polizist wurden.

Cortesi: Das hatte nichts mit der Stadtpolizei Zürich zu tun. Aber es stimmt, der Polizeiberuf fasziniert mich noch immer. Man erlebt viel, und Polizist sein ist anspruchsvoll.

Weltwoche: Nach der Ausbildung begannen Sie 1986 als Streifenpolizist. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Einsatz?

Cortesi: Ja, an der Rosengartenstrasse zog ein Mann umher und erzählte, dass er Dinos und Elefanten gesehen habe. Er war völlig verwirrt. Am Schluss nahmen wir ihn mit und liessen einen Mediziner kommen.

Weltwoche: Das war aber nicht Ihr Alltag Ende der Achtziger, oder?

Cortesi: Nein, nein. Ich war damals in der Betäubungsmittelfahndung. Am Platzspitz oder am Letten gab es fast wöchentlich Tote. Unglaublich, wie viele und was für Menschen da vor sich hin vegetierten. Manche sahen gesund aus, bis sie nicht mehr aufhören konnten, sich mit harten Drogen vollzuspritzen. Schreckliche Szenen! Ich dachte damals immer wieder, die Polizei sei nichts für mich.

Weltwoche: Trotzdem blieben Sie und machten einen Abstecher zur Kantonspolizei, wo Sie im Transportdienst Schwerstverbrecher vor Gericht brachten. Welches Schicksal ist Ihnen besonders geblieben?

Cortesi: Ich begleitete einen Mann, der seiner Freundin – im Kreis 5 – den Kopf abgeschnitten hatte. Den Kopf steckte er in einen Rucksack und trampte damit nach Schweden – per Autostopp. Jeden Abend machte er ein Feuerchen. Neben sich: der Kopf seiner Freundin.

Weltwoche: Was war denn das für ein Typ?

Cortesi: Unscheinbar. Ich hätte ihm das nicht zugetraut.

Weltwoche: Haben Sie, in all den Jahren, das Böse in Reinform kennengelernt?

Cortesi: Ich glaube nicht. Ich bin immer noch überzeugt, dass Straftäter mit etwas Glück einen anderen Weg eingeschlagen hätten.

Weltwoche: Wie veränderte sich Ihr Menschenbild über die Jahre?

Cortesi: Gar nicht. Ich glaube heute noch, dass der Mensch grundsätzlich gut ist, leider aber sehr egoistisch handeln kann.

Weltwoche: Trotz dieser düsteren Aspekte: Was motivierte Sie, täglich für Ruhe und Ordnung zu schauen?

Cortesi: Das Bedürfnis, den Menschen zu helfen. Es gibt Leute, die froh sind, dass es die Polizei gibt, dass sie kommt, wenn man sie braucht. «Dein Freund und Helfer», das trifft unseren Beruf gut. Eine Gesellschaft ohne Polizei würde nicht so gut funktionieren.

Weltwoche: Gab es eine Regel, die Sie durchsetzen mussten, moralisch aber nicht vertreten konnten?

Cortesi: Klar. Sehen Sie diese Tempo-30-Tafel da unten? Ob das sinnvoll ist, darüber kann man diskutieren. Aber meine Meinung ist nicht gefragt. Ich bin der Sprecher vom Kommando, nicht der Sprecher über das Kommando.

Weltwoche: Als Sie 1992 Polizeisprecher wurden, wie war danach Ihr Verhältnis zu den Uniformierten an der Front?

Cortesi: Sehr gut, nach wie vor, auch zum Kommandanten. Mit ihm habe ich fast täglich Kontakt. Ich darf viel selber entscheiden. Es gibt aber Fälle, die muss der Kommandant wissen oder selbst entscheiden.

Weltwoche: Zum Beispiel? Wann war der Chef-Chef gefragt?

Cortesi: Erinnern Sie sich an Paula O., die Brasilianerin, die sich 2009 die Buchstaben «SVP» in die Oberschenkel ritzte? Sie behauptete, Nazis hätten sie am Bahnhof Stettbach überfallen und malträtiert. Mit diesem Fall ging ich zum Kommandanten. Wir entschieden dann, keine Medienmitteilung rauszulassen. Und das war nicht schlecht – eine Woche lang, bis die Frau selber zu die Medien ging . . .

Weltwoche: . . . und einen Tsunami lostrat?

Cortesi: Das war ein Riesentheater! Sogar Lula da Silva, der brasilianische Präsident, machte uns Vorwürfe. Und das Schweizer Fernsehen fragte mich in einem Interview: «Glauben Sie der Frau etwa nicht?» – Eine schwierige Frage. Meine Antwort: «Doch, aber wir sind überzeugt, dass wir die Ermittlung auch ohne Medien weiterbringen können.» In Brasilien wurden die Schweizer als Rassisten bezeichnet – und das in einer Zeit, als die SVP schwarze Schäfli auf ihre Plakate druckte.

Weltwoche: Was unternahmen Sie?

Cortesi: Mein Hauptproblem war, dass Paula O. behauptete, ihre ungeborenen Zwillinge verloren zu haben. Also rief ich Professor Walter Bär an, den Chef des Instituts für Rechtsmedizin an der Uni Zürich. Ich wollte – wie immer in heiklen Fällen – den Schmid, nicht den Schmidli, also die glaubwürdigste Stimme, die ich finden konnte. Er sagte mir, dass das vermeintliche Opfer nicht schwanger gewesen sei. Dann trat er mit dieser Aussage an der Medienkonferenz auf. Und das war dann die coolste Medienkonferenz, die ich je gemacht habe. Sogar Lula da Silva kam, und ich wusste, dass wir diese Situation unbeschadet überstehen würden. Sie hätten die Gesichter der Journalisten aus Brasilien sehen müssen, als Bär seine Aussage machte. (Lacht)

Weltwoche: Auf was kommt es in so einer Situation an, um richtig zu kommunizieren?

Cortesi: Cool bleiben und schauen, von welcher Seite die Pfeile geflogen kommen. Dann heisst es, offen und nachvollziehbar zu kommunizieren. Es gilt: richtig vor schnell. Und wer Fehler macht, muss sie auch eingestehen.

Weltwoche: Angenommen, Sie sind der oberste Krisenkommunikator des Bundesrates. Wie würde Ihr Ratschlag lauten, um PR-mässig gescheit durch die Corona-Krise zu navigieren?

Cortesi: Die Aussagen, die kommuniziert werden, müssen rasch, transparent und einheitlich sein. Wenn selbst die Stadtpolizei keinen Durchblick mehr hat, was gilt und was nicht, ist das nicht gut. Es geht um Glaubwürdigkeit: Die Bevölkerung muss Vertrauen in die Aussagen der Regierung haben.

Weltwoche: Seit 2007 sind Sie nicht nur Sprecher, sondern auch Medienchef: Wie führen Sie Ihr Team?

Cortesi: Für mich ist mein Team sehr wichtig. Jeder soll sich einbringen können, weshalb die Sitzungen am Morgen immer basisdemokratisch sind. Mir ist es wichtig, dass ich jeden Tag alle frage, wie es ihnen heute geht. Erst wenn ein Fall läuft, erteile ich Aufträge.

Weltwoche: Und dann heisst es: Gring ache u seckle?

Cortesi: Ja, dann haben wir keine Zeit mehr für lange Diskussionen. Und für Kommafehler und Ähnliches auch nicht. Medienschaffende wollen Fakten, kein Blabla.

Weltwoche: Hatten Sie jemals das Gefühl, dass Sie die Polizei verkaufen, sie ins bestmögliche Licht rücken mussten?

Cortesi: Ja, schon auch. Ich bin überzeugt, dass mit einer guten Kommunikation schlechte Einsätze besser dargestellt werden können. Und umgekehrt. Das heisst aber nicht, dass ich aus einem schwarzen ein weisses Papier machen kann. Aber ein graues ist möglich.

Weltwoche: Wann sprechen Sie von einem «guten Einsatz»?

Cortesi: Wenn die Betroffenen und die Bevölkerung zufrieden sind, wenn sie sagen, die Polizei habe korrekt, mit Augenmass und verhältnismässig gehandelt.

Weltwoche: Glauben Sie, die Bevölkerung ist heute insgesamt zufrieden mit der Polizei?

Cortesi: Ja. Vor fünfzehn Jahren, zur Zeit, als ich Chef wurde, war die Stimmung zwischen Journalisten und der Polizei nicht gut. Man glaubte uns nicht alles, das ist heute anders. Ich bin überzeugt, dass mir die Journalisten glauben, wenn ich etwas sage. Ich lüge aber auch niemanden an. Ich sage nicht immer alles, was ich weiss. Aber ich sage auch, dass etwas nicht gut war, wenn es denn so ist.

Weltwoche: Sie meinen also, das Ansehen der Polizei ist gut in der Bevölkerung?

Cortesi: Ja.

Weltwoche: Was heisst das? Vielleicht auf einer Skala von eins, als schlimmster Feind, bis zehn, bester Freund?

Cortesi: Mindestens neun.

Weltwoche: Wirklich?

Cortesi: Bevölkerungsumfragen zeigen, dass 96 Prozent zufrieden bis sehr zufrieden sind.

Weltwoche: Wie erleben Sie konkret diese Polizeibegeisterung, von der Sie sprechen?

Cortesi: Ich war mal mit Beni Thurnheer in der gleichen Zunft Ehrengast am Sechseläuten. Am Umzug liefen wir die Bahnhofstrasse hoch, und ich stichelte: «Schau nur, ich werde mehr Blumen bekommen als du.» Am Schluss hatten wir beide zwei Wägelchen voll.

Weltwoche: Wie ist es, als Bündner ein Zürcher Stadtoriginal zu sein? Als Polizist?

Cortesi: Es ist erstaunlich, freut mich aber.

Weltwoche: Ich dachte immer, Polizisten seien das Feindbild Nummer eins.

Cortesi: Gut, dass Sie sich irren.

Weltwoche: Nein, jetzt ernsthaft: Woher kommt eigentlich dieser Polizistenhass?

Cortesi: Das frag’ ich mich manchmal auch. Buben und Mädchen sind bis zehnjährig meist Polizei-Fan, aber auf einmal kippt’s. Vielleicht, weil die Polizei den Staat verkörpert. Und vom Staat will man sich nichts sagen lassen.

Weltwoche: Wenn Sie Graffiti und Sticker mit «Fuck the police» oder «All cops are bastards» sehen, was löst das in Ihnen aus?

Cortesi: Dass wir Polizisten die undankbare Aufgabe haben, Leute zu kontrollieren und auch büssen zu müssen, wenn es sein muss – auch bei Kleinigkeiten. Dass in den Uniformen auch nur Menschen stecken, geht oft vergessen.

Weltwoche: Kontrollierte Schwarze warfen der Polizei unlängst ja in vielen Fällen Rassismus vor, racial profiling. Was ist da dran?

Cortesi: Ich kann nachvollziehen, dass Leute, die immer wieder kontrolliert werden, ein Problem damit haben. Es muss aber möglich sein, dass alle Menschen, egal welcher Herkunft und Hautfarbe, kontrolliert werden können. Und wenn an der Langstrasse, wo der Drogenhandel von Schwarzen betrieben wird, dunkelhäutige Menschen kontrolliert werden, kann ich das verstehen. Vor zehn bis fünfzehn Jahren gab es vermutlich Fälle von racial profiling. Heute ist das aber sicher nicht mehr so. Polizisten sind extrem sensibilisiert.

Weltwoche: So sehr, dass es sich Zürcher Polizisten zweimal überlegen, bevor sie Schwarze kontrollieren?

Cortesi: Ich bin nicht mehr auf der Strasse, aber ich glaube es nicht. Unsere Polizisten müssen Kontrollgründe haben, um jemanden zu kontrollieren. Wir sind aber, das möchte ich betonen, hier nicht in den USA, sondern in der Schweiz. Bei uns dauert die Ausbildung zwei Jahre, in Amerika ist sie deutlich weniger lang.

Weltwoche: Gibt es Szenarien, in denen racial profiling legitim wäre?

Cortesi: Nein, aber wenn ein Dunkelhäutiger kontrolliert wird, weil Polizisten ein entsprechendes Signalement haben, einen Hinweis, dass ein dunkelhäutiger Einbrecher in der Nähe auf der Flucht ist. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Weltwoche: Was sagen Sie Kritikern, die Polizisten überschiessende Gewalt vorwerfen? Von einem brutalen Exzess war kürzlich die Rede, nachdem ein Polizist dreizehn Mal auf einen Mann geschossen hatte. Gibt es Polizisten, die dafür verurteilt werden?

Cortesi: Ja, das gibt es immer wieder. Sie nennen jetzt diesen Dreizehn-Schüsse-Fall: Haben Sie schon mal mit einer Pistole geschossen?

Weltwoche: Warum meinen Sie?

Cortesi: Polizisten müssen regelmässig ins Schiesstraining. Denn es ist extrem schwer, ein sich bewegendes Ziel zu treffen. Der Mann wurde, gemäss Zeitungsberichten, sechs Mal getroffen. Weil aber nur Weichteile und keine vitalen Punkte betroffen waren, gab er nicht auf . . .

Weltwoche: . . . und weil der Mann aufstand, musste der Polizist weiterballern – wegen der drohenden Gefahr?

Cortesi: Hey, der Mann war mit einem Riesenmesser unterwegs! Wenn bekannt wird, dass Polizisten nicht korrekt gehandelt haben, reagiert sofort das Kommando. Nach einer ersten Untersuchung kann es durchaus sein, dass ein Strafverfahren eingeleitet wird. Und das kann dann auch zu einer Entlassung führen.

Weltwoche: Passiert das viel?

Cortesi: Zum Glück nur sehr selten. Was aber jede Nacht, an jedem Wochenende passiert, ist, dass Polizisten angepöbelt, angespuckt und zum Teil auch angegriffen werden. Das Gefühl kenne ich selber. Dafür sind Polizisten nicht da.

Weltwoche: Gewöhnt man sich an Gewalt?

Cortesi: Nein, ich hoffe nicht.

Weltwoche: Wo sehen Sie die grösste Gefahr für Zürich?

Cortesi: Zurzeit sicher in Corona.

Weltwoche: Gibt es etwas, was Sie persönlich beunruhigt?

Cortesi: Ich kann mir vorstellen, dass der Wohn- und Lebensraum hier knapp wird.

Weltwoche: Sie nannten Zürich einst die «schönste, sicherste und beliebteste Stadt» auf der Welt. Stimmt das?

Cortesi: Ja, davon bin ich heute noch überzeugt. Sie müssen sich die Rankings anschauen, da ist Zürich immer unter den Top drei.

Weltwoche: Gibt es in der Stadt einen gefährlichsten Ort?

Cortesi: Nein.

Weltwoche: Warum sind Zürich und auch die Schweiz verhältnismässig so sicher?

Cortesi: Ist doch schön, dass es so ist! Warum, weiss ich nicht. Ich weiss nur, die meisten fühlen sich wohl hier und wollen nicht, dass sich etwas daran ändert.

Weltwoche: Was schätzen Sie an Ihrem Heimatland am meisten?

Cortesi: Ich mag die Schweiz, ich möchte nirgendwo anders leben. Ich bin gerne in Zürich und im Engadin, und wenn ich nur schon nach Basel muss, habe ich Heimweh. (Lacht)

Weltwoche: Zum Schluss: Haben Sie eine unerfüllte Polizistensehnsucht?

Cortesi: Eigentlich nicht. Ich bin aber sehr gespannt auf die Berichte zu meiner Person, was nach 37 Jahren zurückkommt. Von den Journalisten hörte ich sowieso selten Lob, und wenn ich dann noch ehrlich sagte, die Polizei habe einen Fehler gemacht, musste ich auch schon alleine Kaffeepause machen. Meine direkten Mitarbeiter sagten immer, ich sei zwar ehrlich, aber das zahle sich nicht aus. Ich sagte dann: «Doch, Ehrlichkeit zahlt sich aus.»

Weltwoche: Allerletzte Frage: Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin?

Cortesi: Dass sie so bleibt, wie sie ist, und dass sie damit Erfolg hat.

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